Es ist eine rätselhafte, unheimliche Inschrift: “Hier liegt Chajim Ben Chaje, geboren in seiner Mutter Grab”. Zu lesen ist sie auf dem Friedhof von Ostro. Was Legende wurde, soll in dem polnischen Städtchen wirklich passiert sein. Schmuel, dem viel reisenden Holzhändler, und Gattin Chaje, Tochter aus reichem Hause, fehlen zum vollkommenen Glück ein Kind. Chaje wird ungeduldig und nimmt wichtige Papiere aus dem Gepäck, das Schmuel für die nächste Reise geschnürt hat, damit er bald wieder umkehren müsse. Schmuel glaubt an eigenes Versehen und verkleidet sich, um den Spott der Leute abzuwenden. Die nehmen ihn als Fremden wahr, der pikanterweise über Nacht bleibt – und eine hochschwangere Chaje zurücklässt.
Doch Chajes Glück währt nur kurz, denn bald wird sie als Hure geschmäht und vom Rabbi verstoßen. Qualvoll stirbt sie, noch vor Geburt ihres Sohnes, und wird als Sünderin begraben. Dass die Dinge anders liegen, glaubt man erst dem heimkehrenden Schmuel. Und als man das Grab öffnet, findet man neben der toten Mutter ein lebendiges Kind. Sohn Chajim wird zum Zeichen der Unschuld Chajes. Die Gemeinde begreift, großes Unrecht getan zu haben.
Alte Themen, aktuelle Themen
Wie alt diese schaurige Geschichte auch sein mag; die Themen um Vorurteil, Misstrauen und Missgunst sind aktuell geblieben. Der israelische Komponist und Schriftsteller Daniel Galay (geb. 1945) hat darüber eine einstündige, eher rezitierend als reflektierend angelegte Kammeroper geschaffen. Am Montag kam “Chaim Ben Chaya” im Dresdner Theaterhaus Rudi erstmals auf die Bühne. Das reichlich erschienene Publikum dankte überaus herzlich – für Szenen (Regie: Tal Shahar), die durch ihre Kargheit berührten und mit Sandy Assers ergreifender Darstellung der Chaje besonders gewannen. Das Kammerorchester des Heinrich-Schütz-Konservatoriums Dresden unter Friedemann Schulz brachte die folkloristisch durchwirkte Musik nach Kräften zum Blühen. An Präsenz und Stimmgewalt nicht zu überbieten war Susann Reibeholz als singende Chaje.
Die noch bis zum Wochenende andauernde “12. Jiddische Musik-und Theaterwoche Dresden” hat mit “Chaim Ben Chaya” zweifellos einen Höhepunkt erlebt. Ein Produkt aus Hingabe und Idealismus in Teamarbeit – geschaffen binnen kurzer Zeit und mit einem Budget, wo mancher Musiker nicht einen müden Finger krümmen würde.
Karsten Blüthgen, Sächsische Zeitung 22.10.2008